Wird im Insolvenzverfahren über das Vermögen einer Gesellschaft Eigenverwaltung angeordnet, haftet der Geschäftsleiter den Beteiligten analog §§ 60, 61 InsO (BGH, Urteil vom 26.04.2018 – IX ZR 238/17)
(amtlicher Leitsatz)
I. Ausgangslage
Die Frage, ob die Geschäftsleiter einer Gesellschaft nach Anordnung der Eigenverwaltung wie ein Insolvenzverwalter im Regelverfahren gemäß §§ 60, 61 InsO haften, war bislang nicht höchstrichterlich geklärt.
Mit der zitierten Entscheidung (XI ZR 238/17) hat der Bundesgerichtshof die Frage der Haftung nunmehr bejaht.
Der Senat stellt zunächst fest, dass Geschäftsleiter einer Gesellschaft im Rahmen der Eigenverwaltung faktisch und weitgehend die Befugnisse des Insolvenzverwalters im Regelinsolvenzverfahren wahrnehmen. Mit Inkraftreten des ESUG wurden die Möglichkeiten der Eigenverwaltung zudem nochmals gestärkt und ausgebaut. Der Pflichtenkreis und die Rechtsstellung des Geschäftsleiters in der Eigenverwaltung wurden somit noch stärker dem Amt eines Insolvenzverwalters angeglichen.
II. Regelungslücke
Die (allgemeine) Verweisung des § 270 Abs. 1 Satz 2 InsO (auch) auf die §§ 60, 61 InsO sollte nach dem Willen des Gesetzgebers dem Haftungsbedürfnis in der Eigenverwaltung Rechnung tragen. Allerdings ergaben sich vom Gesetzgeber übersehene Unschärfen, die gerade dann offenbar werden, wenn es sich beim Schuldner nicht um eine natürliche Person (die ohnehin persönlich und unbeschränkt haftet), sondern um eine von Vertretungsorganen geleitete Gesellschaft handelt. Diese Unschärfen entstehen nicht zuletzt auf Grund der Verweisung des § 274 Abs. 1 InsO, welcher bestimmt, dass der Sachwalter – der die Geschäftsleiter im Eigenverwaltungsverfahren überwacht – gemäß § 60 InsO haftet. Die Haftungsbestimmung des § 61 InsO ist ausdrücklich ausgenommen.
Die gesetzlichen Haftungsnormen (außerhalb des Insolvenzverfahrens; etwa § 43 GmbHG) sehen für die Organe der Gesellschaft nur eine Innenhaftung, d.h. eine Haftung der Vertreter gegenüber der vertretenen Gesellschaft vor. Die deliktische Haftung (z.B. § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. mit einem Schutzgesetz) greift zu kurz.
Der Bundesgerichtshof erkennt eine sich hieraus ergebende Haftungs- und somit Regelungslücke.
III. Planwidrigkeit
Die Planwidrigkeit der Regelungslücke ergibt sich nach den Ausführungen des neunten Senats insbesondere aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmungen zur Eigenverwaltung, die – wie einleitend bereits kurz zusammengefasst – durch das ESUG wesentliche Änderungen und Anpassungen erfahren haben. Man kann sagen, dass der Gesetzgeber nicht das Haftungsbedürfnis an sich – sondern vielmehr die sich aus den Verweisungsregelungen ergebenden Unschärfen – übersehen hat.
So führt der Senat aus, dass sich der Gesetzgeber offensichtlich nicht darüber im Klaren war, wie sich die Verweisung des § 270 Abs. 1 Satz 2 InsO auf die Bestimmungen der §§ 60, 61 InsO bei Anordnung der Eigenverwaltung über das Vermögen einer Gesellschaft gestaltet, die durch ihre Organe vertreten wird.
IV. Interessenlage
Die weitgehende Gleichstellung des Eigenverwaltungsverfahrens mit dem Regelverfahren erfordert nach der Entscheidung des neunten Senats als Äquivalent der Haftung des Insolvenzverwalters eine Haftung der Geschäftsleiter (vgl. Jacoby in FS Vallender, 2015, 261, 265, 270).
Die auf Überwachungsfehler beschränkte Sachwalterhaftung (§ 274 Abs. 1 und 2, § 60 InsO) leiste keine volle Kompensation. Würden die Geschäftsleiter in der Eigenverwaltung von der Haftung nach §§ 60, 61 InsO entbunden, bestünde die Gefahr, dass dieses Verfahren entgegen der Intention des Gesetzgebers, der damit den Sanierungsgedanken zu fördern suche (vgl. BT-Drucks. 17/5712, S. 1 ff, 17 ff), gezielt im vorrangigen Interesse einer Haftungsbeschränkung beschritten werde.
Die Gesetzeslücke sei nach der Entscheidung des neunten Senats dahin zu schließen, dass die Geschäftsleiter einer eigenverwalteten Gesellschaft den Beteiligten entsprechend dem Regelungsplan des Gesetzes für die Verletzung ihnen obliegender insolvenzspezifischer Pflichten analog §§ 60, 61 InsO auf Schadensersatz haften.
Eine haftungsrechtliche Gleichstellung einer insolventen, in Eigenverwaltung befindlichen Gesellschaft (§ 270 Abs. 1 InsO) mit einer im Regelinsolvenzverfahren befindlichen Gesellschaft sei angesichts fehlender, anderweitiger hinreichend geeigneter rechtlicher Instrumentarien geboten und könne nur verwirklicht werden, indem die Geschäftsleiter der eigenverwalteten Gesellschaft gegenüber den Beteiligten einer Haftung nach §§ 60, 61 InsO unterworfen werden.